Gesellschaft, Gemeinschaft und Golgatha

Das Internet und all die damit verbundenen Erfindungen wie Smartphones, Tablet-Pc’s und soziale Netzwerke haben unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren vermutlich mehr verändert als irgendeine andere Erfindung. Am 14. September 2012 hat das soziale Netzwerk Facebook die Marke von einer Milliarde Mitgliedern überschritten. Ohne großen Aufwand können wir Kontakte herstellen zu Menschen, die weit entfernt wohnen. Die Smartphones ermöglichen uns, zu jeder Zeit und an jedem Ort mit anderen in Kontakt zu treten. Wer Mitglied bei Facebook ist, bekommt auf seiner virtuellen Pinnwand die neuesten Statusmeldungen zusammengestellt: welches Baby gerade Zähne bekommt, dass der Schneeman vor dem Haus schmilzt, welche Prüfung gerade ansteht, wie sich jemand gerade fühlt oder sogar welche Beziehungen gerade entstanden sind oder getrennt wurden. Unter solchen Aspekten ist die Welt vernetzter als je zuvor.

Dadurch entstehen Nebeneffekte. In der New York Times wurde von einer Frau berichtet, die auf ihrem persönlichen Blog auf unterhaltsame Art über Ehe und Kindererziehung schrieb. Als sie sich verletzte, schickten ihnen die Leser ihres Blogs innerhalb von zwei Wochen Spenden von insgesamt fast 100.000 Dollar. Als der Reporter die Spender fragte, warum sie so großzügig zu jemanden seien, den sie nicht kennen, antworteten die Leute mit einem Schnauben, dass sie sie natürlich kennen und keinen Unterschied machen zwischen „online-Freunden“ und leibhaftigen Freunden. Die Schwester der Frau hingegen kannte sie im wirklichen Leben und sagte, dass ihre Schwester keine perfekte Ehe habe und auf ihrem Blog nur Gutes berichte. Sie kannte sie aus leibhaftigen Begegnungen. Die Blog-Leser hingegen lebten in der Illusion, mit dieser Frau vertraut zu sein – ein Nebeneffekt des Internets.

Ein weiteres Phänomen ist der „Gefällt-mir“-Button: Ich kann anklicken, welche Wortmeldungen, Beiträge, Videos usw. mir gefallen. Er ist in vielfacher Weise Spiegelbild der Haltung in der heutigen Gesellschaft: Höchster Wert ist, ob einem etwas gefällt – und dies prägt unbewusst unser Verhalten – mehr als wir vielleicht wahrnehmen. Der Pastor Tim Keller nennt als Beispiel, dass wir früher eine ganze CD gekauft haben, heute hingegen nur die Titel kaufen, die uns gefallen. Er weist darauf hin, dass klassische Musiker den Trend beobachten, dass Menschen häufiger zu spät zum Konzert kommen und das Konzert schon früher verlassen. Sie verhalten sich zu den Liedern im Konzert wie zu den Liedern auf der CD – sie sind nicht mehr an der ganzen CD bzw. am ganzen Konzert interessiert, sondern nur noch an den Liedern, die ihnen gefallen. Sie verstehen das Konzert nicht mehr primär als gemeinschaftliches Erlebnis und sich selbst als Teil eines Publikums, sondern sie sehen sich als individuellen Konsumenten. Während unter technischen Gesichtspunkten die Welt vernetzter als je zuvor ist, scheint jedoch gleichzeitig der einzelne Mensch mehr für sich, isolierter und einsamer zu sein.

Dies sind nur wenige Beispiele, doch sie zeigen an, dass diese Dinge sich auf Gemeinschaft auswirken. Wahre Gemeinschaft kann nicht bloß „virtuell“ gelebt werden, sondern geschieht in leibhaftigen Begegnungen und Beziehungen. Gott hat uns nicht umsonst einen Körper gegeben. In Christus hat Gott selbst einen Körper angenommen, um Gemeinschaft mit uns aufzunehmen. Wahre Gemeinschaft kann auch nicht nach dem Prinzip des „Gefällt-mir“-Buttons gelebt werden. Seien wir ehrlich: Wir alle sehnen uns nach Beziehungen, in denen wir gerade auch dann geliebt und angenommen sind, wenn wir dem anderen nicht gefallen. Eigentlich wissen wir, dass nur solche Beziehungen tragfähig sind und uns dazu befreien, in Wahrheit miteinander umzugehen und einander mit unseren Stärken und Schwächen zu tragen und zu lieben. Wir gehen durch die Welt auf der Suche nach solchen Beziehungen, sind uns aber mitunter gar nicht bewusst, dass wir selbst nach dem „Gefällt-mir“-Prinzip vorgehen und nur solche annehmen, die uns gefallen. Wahre Gemeinschaft erfordert eine Liebe, die über das „Gefällt-mir“-Prinzip hinaus geht.

Diese Liebe sehen wir auf Golgatha – dem Ort, an dem Jesus starb. Auch hier neigen wir dazu, Jesu Tod am Kreuz überwiegend individualistisch zu deuten: Er starb, um mich mit Gott zu versöhnen und mir meine Schuld zu vergeben. Ja, das ist wahr und das ist großartig. Es ist jedoch wichtig, auch die Bedeutung von Jesu Tod für Gemeinschaft zu erkennen: Er starb, um uns miteinander zu versöhnen und zu verbinden. Paulus beschreibt dies so: „Dadurch, dass er am Kreuz starb, hat er sowohl Juden als auch Nichtjuden mit Gott versöhnt und zu einem einzigen Leib, der Gemeinde, zusammengefügt; durch seinen eigenen Tod hat er die Feindschaft getötet.“ (Epheser 2,16). Jesus hat uns mit einer Liebe geliebt, die jegliche Feindschaft überwindet. Er hat Frieden gemacht zwischen Mensch und Gott, aber auch zwischen Menschen, die einander nicht gefallen. Jesus hat uns zusammengestellt in einem Leib. Diese Liebe hat er mir entgegengebracht und jedem anderen in der Gemeinde. Wir gehören zusammen, aber nicht nach dem „Gefällt-mir“-Prinzip, sondern durch Jesus.

Wir sind durch ihn nicht nur „virtuell“ verbunden, wir sind Brüder und Schwestern, die einander leibhaftig brauchen. Wir sind durch Jesus eine Familie – und er ruft uns auf, diese Realität zu leben.

Thomas Arhelger